… und die trotzdem nicht literarisches Freiwild sind
Osnabrück, 21. März, 2010, wie jeder Zeit, wie über All am Fuße des Kommenden,
Vorab eine kleine Überlegung zum Raum-Zeit-Kontinuum und allgemeindem Begriff ‘Zukunft‘:
Stellen wir uns Zeit als eine kontinuierlich vorwärts strömende Kraft vor kann es kein Zurück in die Vergangenheit geben die Abfolge der Ereignisse kann sich lediglich dichter oder weniger dicht vollziehen was man als schnelleres oder langsameres Vergehen der Zeit bezeichnen mag vorstellen kann man sich allerdings dass wenn dieses Kontinuum je nach den Gegebenheiten des Raumes in seinem umfassenden Sinn schneller oder langsamer abläuft uns dann aus dem was wir für Vergangenheit halten Erscheinungen in dem zustoßen was wir wiederum als Gegenwart empfinden und es mithin eine unendlich große Zahl an nichtsynchronen Gegenwarten geben muß was den Schluß nahelegt dass Regress der dann ja kein Rückschritt im physikalischen Sinn sein kann sondern vielmehr ein sich-von-der-Vergangenheit-einholen-lassen in Krisensituationen ein möglicher Weg sein könnte um neuartige Zukunftsperspektiven zu eröffnen
Die zehn Ge- und Verbote der Gegenwart. Sie mögen in 10 Jahren auch noch gültig sein.
Erstes Gebot. Du sollst nicht häßlich sein.
Zweites Gebot. Du sollst nicht häßlich sein.
Drittes Gebot. Du sollst nicht häßlich sein.
Viertes Gebot. Du sollst nicht langweilen.
Fünftes Gebot. Du sollst alt werden, aber jung bleiben.
Sechstes Gebot. Du sollst keine Schwächen zeigen.
Siebentes Gebot. Du sollst effizient sein.
Achtes Gebot. Du sollst wenigstens 10% deiner Facebookfreunde persönlich kennen.
Neuntes Gebot. Du sollst immer das Angenehme zu etwas Nützlichem machen.
Zehntes Gebot. Du sollst immer das Nützliche zu etwas Angenehmem machen.
Die zehn Gebote der Zukunft, sie mögen auch vor 1000 Jahren schon gegolten haben.
Erstes Gebot. Du sollst jederzeit bemüht sein, herauszufinden, welche Kompetenz überlebensnotwenig wird, und welche du vernachlässigen kannst.
Zweites Gebot: Fleisch nur Sonntags. Schlachte nicht die Kuh, die du melken willst.
Drittes Gebot: Verbrenne nicht den Planeten, den du bewohnen willst.
Viertes Gebot: Vergifte nicht den Brunnen, aus dem du trinken willst.
Fünftes Gebot: Töte nicht das Kind, von dem du willst, dass es später deine Rente zahlt.
Sechstes Gebot: Mache keine Pauschalreisen.
Siebentes Gebot: Mache Ausnahmen von Regeln, die du dir auferlegst und deren Einhaltung du ansonsten streng beachtest.
Achtes Gebot: Lerne unterscheiden zwischen Lüge und einem phantasievollen Verhältnis zur Wahrheit. Lache bei Beerdigungen und weine bei Geburtstagsparties.
Neuntes Gebot: Begreife ‘lauter‘ nach Bedarf mal als Adjektiv, mal als Komparativ.
Zehntes Gebot: Du sollst stets ein Quentchen Relaxtheit unter deine Bemühungen mischen, damit du locker rüberkommst und du nicht allen Erfolg durch Verbissenheit zunichte machst.
Ich kam her in der Absicht, über Zukunftsvisionen zu sprechen. Und da ich mich zu den Leuten zähle, die Theater oder ganz allgemein Kunst eher als ein Art hochgehängte Zwischenablage für Lebensbe- und erkenntnisse betrachten denn als selbstreferenzielle Welt, wollte ich nicht über Theater sondern eher sehr allgemein über meine Vorstellungen von Zukunft referieren.
Ich dachte mir das etwa so, dass ich ein paar mehr oder minder auf der Hand liegende Thesen in den Raum stelle. Wie etwa:
Menschen werden Wege, sagen wir, eine Sprache finden, die es ihnen ermöglicht, mit Pflanzen, Tieren und vielleicht auch anderen Organismen nachvollziehbar zu kommunizieren.

Sie entdecken die Denk- und Empfindungsfähigkeit in Flora und Fauna, weit über das bisher bekannte und bewiesene Maß hinaus, wenn es auch Streit unter Wissenschaftlern über jenes Phänomen gibt, das man gemeinhin als Bewußtsein bezeichnet 
und das einige unter ihnen als diejenige dem Menschen exklusive Fähigkeit reklamieren, die uns für immer von allen anderen Lebewesen distinguiert, und von dem sie unseren vermeintlichen Vorrang auf Erden über alle anderen Gattungen herleiten 
Auf jeden Fall wird dies junge Wissen im Überfluß neue wissenschaftliche und ökonomische Möglichkeiten, allerdings auch veränderte ethische Schwierigkeiten aufwerfen.
Vielleicht diese:
Kind: Mein Rosenkohl hat gesprochen.
Mutter: Ach? Was hat er gesagt?
Kind: Die Sauce, die du gekocht hast, verursacht ihm eine allergische Reaktion.
Mutter: Oh.
Kind: Wegen der Kapern.
Mutter: Ah.
Kind: Und wenn er schon gefressen wird, könnten wir wenigstens vorher ein bißchen Rücksicht nehmen.
Mutter: Woher hätte ich das wissen sollen. Bei der Zubereitung war er mucksmäuschenstill.
In der Art.
Eine andere These: Das sogenannte geistige Eigentum ist abgeschafft.
Da könnte es zu Situationen kommen wie dieser:
Einer ruft beim musikalischen Fräuleinwunder des Jahres an.
Er: Äh, spreche ich mit Lady Gogo?
Sie: Go Go Go.
Er: Äh, Lady Gogo?
Sie: Go Go Go.
Er: Äh, der Song, mit dem du
Sie: Go Go Go.
Er: Mit dem du gerade die Charts stürmst –
Sie: GO!
Er: Der Song, der ist von mir.
Sie: Echt? Wow, der hat mir echt gut gefallen. Aber jetzt go go go.
Er: Äh, könnte ich vielleicht..
Sie: Was denn noch?
Er: Könnte ich n Autogramm..
Performance ersetzt also Invention; wir hoffen auf ein dem Hartz 4 angehängtes Forschungsbudget für Scientisten.
Für Künstler wagen wir dies nicht schon wieder aufs Tapet zu bringen, gähn, sie sind schon zu oft aus dem Wald gerannt gekommen und haben den Wolf angekündigt.
Tragisch, denn er wir uns bald wirklich auf den Fersen sein; Mir scheint dass, wenn Kunst und Wissenschaft sich ein Überleben jenseits von Erträgen aus Urheberschaften ertrotzen wollen, täten sie gut daran, ihre geheime Verwandtschaft in eine handfeste Interessengemeinschaft umzumünzen und Seite an Seite, oder – noch besser, mit kunstvoll verschlungenen Gliedern ihren Platz im Zentrum gesellschaftlicher Vitalität zu postulieren.
Dritte These:
Aufgrund der immer weiter wachsenden Mobilitätsansprüche an die Arbeitnehmer von morgen und dank der Energie und Wohlorganisiertheit von Figuren wie Ursula von der Leyen, die durch ihren Einsatz Wertvolles leisten um zu verhindern, dass Frauen vollständig an den Herd zurückgedrängt werden, um die – inzwischen auch von immer mehr Durchschnittsarbeitnehmern verlangte – berufsbedingte Mobilität im In-und Ausland zu ermöglichen, wird als notwendige Konsequenz die allgemeine Schulpflicht abgeschafft und durch eine Pflicht zur Bildung ersetzt.
Beispiel.
Mutter: Was machen wir denn an deinem Geburtstag, Alex? Eine Schatzsuche?
Alex: Gut, dass du fragst;
ich bin an dem Tag nicht da. Hab n Praktikumsplatz an der Frankfurter Börse. Wenn ich das Zertifikat bis April einreiche, kriege ich beim Bildungsamt 4 Punkte gutgeschrieben.
Mutter: Aber Mäuschen. Mit sechs?
Alex: Was denkst du denn? Millie hilft in London in der Tategalerie aus. Und wohnt im Hostel. Die ist erst vier.
So weit so optimistisch.
In der Art sollte es weitergehen. Aber dann kam plötzlich die Sache mit der Unsterblichkeit dazwischen, und meine Visionen wurden fürchterlich. Ich schreibe nicht. Mir wird diktiert. Hinterher lese ich:
Die, welche schon da sind,
machen den Neuen nicht freiwillig Platz,
sie räumen das Feld
als Lebende,
nicht als Tote,
wer hier seinen Platz sucht,
muss sich gefasst machen
Kampf wird aufs Neue die Devise sein
nicht Barmherzigkeit.
Und wie das Alte nicht willig dem Neuen weicht,
wie es bleibt und bleibt
und am Leben klebt wie am Stuhl
erkennt das Neue nicht willig das Alte an
Kommt nicht mit Bitte und Danke
schon auf die Welt.
Es heißt, dass im Zeitalter der Unsterblichkeit, (Heilbarkeit aller Gebrechen, Reproduzierbarkeit aller Köperteile) ein jedes Kind, welches das fünfte Lebensjahr vollendet hat, jemanden wird finden müssen, der bereit ist, das eigene Leben für das des Kindes aufzugeben, damit dieses quasi einen Lebensplatz auf der Erde ererbt, denn der Planet müsste sonst wohl oder übel unter der Überbevölkerung zusammenbrechen.
Recht bald schon nach der Erreichung der Unsterblichkeit für die breitere Masse war klar geworden, dass ein Weg gefunden werden müsse, die Überbevölkerung in den Griff zu bekommen. Man jagte daher den Menschen systematisch und mit solchem Geschick Angst vor der kommenden Generation ein, dass kaum jemand unbeschwert an ein Baby/Kinderlachen denken konnte,
ohne dahinter die teuflische Maske eines kleinen, tyrannischen Invasoren zu vermuten,
der aus reiner, niederträchtiger Berechnung sein zahnloses Mündchen zu seinem hinreißenden Grinsen verzog.
Zugleich erleichterte man es den Frauen auf alle erdenkliche Art, sich der Föten, die nicht den allerhöchsten Quaitätsstandards genügen konnten, zu entledigen, beispielsweise legten die Hebammen den Schwangeren während des Eingriffs kleine Roboter in Gestalt von entzückenden Fabelwesen auf die Bäuche, während die menschlichen Leibesfrüchte ohne viel Aufhebens zur Entsorgung fortgebracht wurden; es gab Rabattscheine für Wellnessreisen und man bemühte darüber hinaus bei allen Beratungen um eine Sprache, aus der alle ungeschminkten Formulierungen bezüglich des Schicksals der aussortierten Föten eliminiert waren.
Es war von Rezüklieren, von Umkonfigurieren die Rede aber nicht von Sterbenlassen oder gar töten.
Den abgebrochenen Müttern wurde ein nebulöses Gefühl gegeben, der mangelhafte Nachwuchs würde zum allgemeinen – inklusive seines eigenen – Besten gleichsam schonend kompostiert und würde so einem weitaus höheren Zweck als dem seiner individuellen Verwirklichung zugeführt.
Eine Weile lang konnte man auf diese Weise die Bevölkerungsexplosion zumindest eindämmen.
Doch diese relativ friedliche Zeit wurde jählings abgelöst durch
eine Epoche, in welcher der Glaube der Frauen an die Verläßlichkeit der Pränataldiagnostik durch ein einzelnes, aber um so traurigeres Ereignis, welches weltweites Entsetzen ausgelöst hatte, stark erschüttert war (man hatte eine Frucht abgetrieben, weil an ihr vermeintliche qualitative Mängel diesen Schritt als das Vernünftigste erscheinen ließen, und, auf das hartnäckige Betreiben der Mutter hin diese nach dem Abtreiben noch einmal untersucht, dabei unseligerweise festgestellt, dass es sich durchaus um keine Mängel, sondern vielmehr um außerordentliche, beinahe wunderbare Befähigung – manche hielten die abgetriebene Frucht gar für den neuen Messias – gehandelt hatte. Die Frau aber hatte sich auf diese Nachricht hin aus dem siebten Stock eines Wohnhauses gestürzt).
Dieses Ereignisses wegen verweigerten sich weltweit die Frauen für einen Zeitraum von über drei Jahren fast völlig allen vorgreifenden diagnostischen und selektiven Methoden zur Optimierung der Nachkommenschaft, und sie bestanden hartnäckig darauf, das Kind, das sie beantragt hatten, ausgereift und lebensfähig zu sehen und untersucht zu wissen, ehe sie entschieden, ob es existieren sollte oder nicht.
Das Entsorgen von Babys im Alter von bis zu 10 Lebenstagen wurde nun abgedeckt durch den Paragraphen 420 des Grundgesetzes, der eindeutig das Existenzrecht des Individuums in Relation zu den Überlebensinteressen der ganzen Spezies definierte und relativierte. So wurden die neugeborenen Kinder sowieso gescannt und auf jeden vorstellbaren Defekt untersucht; alsdann wurde ein Profil des Kindes angefertigt, das sehr gründlich war. Das Profil enthielt alle verfügbaren Daten des Neugeborenen, die zur Registrierung seines Karrierepotentials, etwaiger gravierender Risiken für die Gesundheitsversorgung, sozial relevante physiologische Gefahrenquellen, wie zB eine vergrößerte Amigdala (Hang zur Kriminalität) oder andere genetische Defekte, Allergien etc, an die entsprechenden Anstalten verschickt wurden. Die Anstalten waren mit Bedacht nicht vereinigt; so schickten sie also individuell erstellte Empfehlungen an das Amt für Nachwuchs und Bevölkerungshygiene zurück, die dort vergleichend betrachtet wurden. Ein zusammenfassendes Gutachten gab schließlich Auskunft über den voraussichtlichen Wert des kleinen Humanos. Bei mangelhaften Exemplaren riet die Gesellschaft für Nachwuchs der Mutter zur Entsorgung – ein Rat, der erstaunlich oft angenommen wurde.
Man will nicht leugnen, dass es einen einigermaßen hohen Prozentsatz von Müttern gab, die am 5ten Geburtstag ihres Kindes diesem den Kontrakt zur Überschreibung der Daseinsberechtigung unterschieben auf den Gabentisch legten.
Aber die Annahme, dass alle, oder zumindest fast alle der Mütter dies schließlich tun würden, ist unzutreffend, womöglich naiv. Der Vertrag von dem die Rede ist, sicherte den Müttern ein Lebensrecht bis zur Volljährigkeit des Kindes zu; bei minderjährigen Müttern, also solchen, die zum Zeitpunkt der Geburt des Kindes die Mündigkeit noch nicht ereicht hätten, und von denen man eine besondere Zustimmungsunwilligkeit erwartete, legte man noch sechs Jahre dazu.
Bemerkenswerterweise belegen die Statistiken eher einen entgegengesetzten Trend: Die sehr jungen Mütter entschieden sich meist unmittelbar nach der Geburt ihrer Kinder spontan, zu deren Gunsten auf die eigene Unsterblichkeit zu verzichten, wohingegen eine grosse Anzahl jener relativ spät gebärenden Frauen, die schon mehrere Berufe ausgeübt hatten, ehe sie eine Befruchtung beantragten, oft zwei oder drei Neugeborene pro Frau fortbrachte, ehe sie sich zufriedengab mit dem Ergebnis ihrer biologischen Produktion. Aber auch dann behielten viele sich bis zum Schluß – also bis zu dem erwähnten Geburtstag des Kindes, ihr Verstoßungsrecht vor.
Die Gesellschaft vertraute auf einen allgemeinen Konsens bezüglich der
Merkmale, die der Humannachwuchs aufweisen sollte, und dass die von den Müttern bevorzugten Eigenschaften dieselben sein würden, die die Gesellschaft für Nachwuchskontrolle als preferabel einstufte.
Eine Mutter, die sich nicht zu dem Vertrag entschließen mochte, setzte für gewöhnlich ihr Kind kurz nach dessen viertem Geburtstag von ihrem Entschluß in Kenntnis, und daraufhin machten diese sich gezwungenermaßen auf die Suche nach einem anderen Vetragspartner.
Die Aussichten waren allerdings nicht besonders gut. Hatte seine mäßige Schönheit in geistiger oder leiblicher Hinsicht schon die Mutter des Kindes abgehalten, den Vertrag zu unterzeichnen, so standen seine Chancen, wenn es sich entschloß, auf die Tour – so nannte man jenes einjährige Herumziehen der vierjährigen Kinder auf der Suche nach fremden Vertagspartnern, im Allgemeinen noch schlechter.
Als erstes durchforschten sie meistens die Spenderlisten. Auf den Listen fand man z. B Langzeitarbeitslose, Berufsunfähige, Versager aller Arten, die im Laufe von Jahren und Jahrzehnten der Taten- und Erfolglosigkeit sich von dem Gefühl hatten durchdringen lassen, sie müßten irgendwann für ein Individuum Platz machen, das die Gesellschaft nicht nur Geld kosten, sondern ihr auch welches zuführen würde.
Diese Spender waren sehr begehrt, und nur die schnellsten und geschicktesten der vertraglosen Kinder bekamen solch einen relativ sicheren Lebenstauscher.
Außerdem kamen in Betracht diejenigen depressiven Personen, die ihren Todeswunsch mit der Sehnsucht verbanden, eine gute Tat zu vollbringen. Sie waren relativ zahlreich, jedoch nicht sehr zuverlässig. Der Lebenstausch klappte eigentlich nur in jenen Fällen, in denen das suchende Kind es fertigbrachte, sich in den Haushalt des Depressiven einzuschmuggeln, und an Ort und Stelle auf den geeigneten Moment zu warten, in welchem der Todeswunsch übermächtig wurde, und der Tauschkandidat das Verlangen äußerte, sein Leben unverzüglich zu beenden.
Hier zückten die clevereren unter den kleinen Vagabunden Stift und Vertragspapier, welches sie für diesen Fall immer bereit hielten, und gaben es dem Lebensmüden zur sofortigen Unterschrift.
Dieser Coup gelang hin und wieder. Jedoch nicht sehr oft, und die Nebenwirkungen waren beträchtlich.
Die Kinder mußten im Gegenzug oft als Sterbehelfer agieren, das Fenster öffnen und dem Selbstmörder einen Stoß in den Rücken verabreichen oder gelegentlich auch eine Waffe führen.
Sonst kam es oft zu jenen verunglückten Vertragsverhandlungen, wo der Depressive in dem Moment, in dem die Unterzeichnung des Vertrages fällig wurde, zurückzog. Er mochte dann wohl Einwände erheben, das Kind kritisieren, seinen Wert in Frage stellen, schließlich das ganze Unternehmen vertragen und sich selbst am Ende aus der Kartei streichen lassen. Dies konnte das auf einen Abtretungsvertrag wartende Kind freilich das Leben kosten, denn in den Monaten, in denen es auf den Vertrag mit dem Selbstmörder hoffte, war es für weitere Spender gesperrt und konnte keine anderen Kontakte knüpfen, wo doch inzwischen sein fünfter Geburtstag unaufhaltsam näher rückte.
Über ein bemerkenswertes Projekt im Zusammenhang mit diesen Listen, welches seinerzeit strengster Geheimhaltung unterlag, ist nur so viel bekannt:
Eine Gruppe, groß genug, um verläßliche statistische Werte zu erbringen, jedoch klein genug, um von den uneingeweihten Kontrollorganen unbemerkt zu bleiben, tauchte auf den Spenderlisten auf. Die beschriebenen Personen hatten unauffällige Berufe, ihre Namen ließen auf Personen mittlerer Bildung und mittleren Alters schließen. Hinter diesen Identitäten jedoch waren Kinder verborgen. Kinder ohne abgeschlossenen Lebentauschvertrag, die an einem Experiment, auf dessen Zweck ich später zu sprechen kommen werde, teilnahmen, da dies ihre Daseinsberechtigung um sechs Monate verlängerte.
Das Hauptmerkmal bei dieser Gruppe war, dass die Kinder, die den Vertrag als Spender abschließen sollten, dies freilich überhaupt nicht wollten. Sie hatten nur eingewilligt, um die Verlängerung zu erhalten, und dann hofften sie, ganz wie Kinder dies tun, auf die wunderlichsten Mirakel, die ihnen das Bleiben ermöglichen würden. Vernunft war dabei das am wenigsten gebrauchte Werkzeug. Eher gaben die Kinder, während sie in ihren Baracken auf die Begegnung mit einem vertragssuchenden Kind warteten, sich wilden, auch grausamen Phantasien hin, in denen entweder sie jeden, der ihnen nach dem Leben trachtete, rücksichtslos niedermetzeln wollten, giftige Kuchen backen, was immer sich ihnen als Ausweg anbot, oder aber sie träumten sich eine plötzlich aufbrechende weltweite Protestbewegung, die sich der Humanos über Nacht bemächtigen und dieses Lebenstausch-System außer Kraft setzen würde.
Hingebungsvoll malten die Kinder sich auch große, massenvernichtende Naturkatastrophen und Seuchen aus (wunderbarerweise immer auf einem anderem als dem Kontinent, auf welchem sie wohnten), der Millionen von Opfern das Leben kostete, Katastrophen von solch riesigen Ausmaßen, dass plötzlich der Humano-Überschuß über Nacht vertilgt und für alle überlebenden Kinder dieser Welt, unter denen selbstverständlich sie selbst sich befanden, mit einem Schlag genügend Platz wäre.
Das Projekt war was die Zahlen angeht nicht erfolgreich. Sobald herauskam, wer hinter dem Bürokaufmann Namens Kevin Schneider steckte, gab es Kampf. Die einen Vertrag suchenden Kinder fühlten sich hinters Licht geführt, so gut wie niemals solidarisierten sich die Kinder, sondern sie gingen vielmehr mit erschreckender Grausamkeit auf einander los, und Todesfälle waren keine Seltenheit.
Ein einziges Kind schließlich konnte – dem Vernehmen nach ein singuläres Vorkommnis in der Geschichte des Lebenstausches – einen Vertrag mit einem anderen Kind abschließen, welches nicht aus Verzweiflung oder Lebensüberdruß, sondern aus Liebe sein Leben für das eines anderen hingab. Denn dies war die perfide Spielregel hinter dem Versuch.
Kaum war ein Kind in dem Lager angelangt, in dem das Experiment durchgeführt wurde, führte man ihm so bald wie möglich ein Kind zu, zu dessen Gunsten es selbst auf die ihm verbleibenden sechs Lebensmonate verzichten sollte.
Ein Kind, das sich dazu bereit finden würde, bekam eine unbefristete Daseinsberechtigung für das ihm zugeteilte Anwärterkind. Der Forscher, auf dessen Idee das Projekt zurückging, wollte herausfinden, wie häufig und aus welchem Antrieb es zu diesem selbstvergessenen Großmut kommen konnte. Dass sich immerhin eins seiner Versuchswerkszeuge zur Abtretung bereit fand, wurde von ihm selbst übrigens als unerwarteter Erfolg gewertet. Was es in der Tat war. Denn so bescheiden dieses Opfer erscheinen mochte, so sprach es sich doch nach und nach unter den Humanos herum; es erregte allgemeines Erstaunen, dieses Erstaunen wiederum erweckte lange abgestorbene Hoffnungen, die Hoffnung schlug um in eine ungreifbare, deswegen aber nicht weniger spürbare.
Begeisterung, die Begeisterung schließlich steigerte die Kreativität und Produktivität unzähliger Humanos ungemein, und die Effekte, die dieser einzelne Vorgang im Laufe der Zeit erzeugte, waren von einer Dimension, die in keinem Verhältnis zur Ursache mehr zu stehen schien.
Dies rührende und zugleich schreckliche Ergebnis des Experiments hatte am Ende doch den Beweis erbracht, dass die Qualität eines Humanos nicht mit letzter Sicherheit anhand seiner Laborwerte und seiner Wirkung auf den mütterlichen Oxytozinspiegel errechnet werden kann, sondern dass jenes unbegreifbare Medikament, das manchmal unter dem Begriff Liebe durch die Welt geistert, im Menschen bei seiner Geburt nicht nachweisbar vorhanden ist, das es jedoch wie ein Urknall aus einem komplexen Gemisch von Ingredienzen seine eigene Schöpfung und seine eigenen Gesetze kreiert und Wirkungen von unvorhersehbaren Ausmaßen hervorbringen kann.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit und Marianna, Karl und Leontine für ihre Präsenz auf den Fotos.












