Alles Helden oder was?

Vermischtes

Impulsreferat zum Thema Helden im Kinder- und Jugendtheater, Hagen, 12.10.2013.

Von Paula Fünfeck

Frage vorab: Wer von den Anwesenden würde von sich sagen: “Ich erlebe im nicht-theatralen ‘realen’ Leben aufregendere Dinge als in der Welt des Theaters“ – ?

Alles Helden oder was?

Ich suche jetzt erst mal nach einem anderen Begriff für Held, nach einem weiblichen Begriff, denn wenn ich in diesem Aufsatz 45 Mal: ‚der Held oder die Heldin tut das und das’ bzw: ‚die Heldin oder der Held ist so und so’ schreiben muss, dann kriege ich die Krise. Dann erübrigt sich alle weitere Betrachtung über Rollenvorbilder von selbst. Und wenn ich nur ‚der Held’ schreibe, kriege ich auch die Krise und wenn ich nur ‚die Heldin’ schreibe, kriegen vielleicht andere die Krise.

Wikipedia bietet als weibliches Heldenpendant den Begriff ‚Heroin’ an, aber  falsch betont kriegen wir ein Suchtproblem, das geht auch nicht.

Was ist mit ‚Vorbildfigur’? Klingt nach neuartiger Radikaldiät, die die Ärzte schockiert…

Die Heldenfigur, die Metaseele… ich suche nach einer Formulierung, die auf die Intensität Bezug nimmt, mit der derdiedas Heldenwesen seinihrsein Leben lebt und verausgabt.

Flammenseele… Wolkenkratzerseele, das gefällt mir; das Gegenteil von Sesselfurzerseele. Und weil ich es gleich ziemlich oft benutzen werde, kürze ich das lange Wort ein: Wokrase, die, feminin;  bezeichnet eine geistige Verfassung; es können sowohl  Männer, Frauen als auch Kinder Wokrases sein. Allerdings geht man gemeinhin davon aus, dass Wokrase eher ein Merkmal von Reife ist.

Die Wokrase ist mutig, die Wokrase scheisst auf die Meinung anderer. Die Wokrase nimmt keine Rücksichten, die elend+Elend zu hohen Jahren kommen lässt – im Gegensatz zur Sefuse, zur Sesselfurzerseele.

Als die Wokrase noch Held oder Heroin hieß, hat man sie gern mit dem Krieg und dem Töten in Verbindung gebracht, aber das Töten ist kein Hobby der Wokrase, es ist eher so: Die Wokrase fürchtet sich nicht vor dem Sterben, sie klebt nicht an diesem Ich-Gefühl, von dem viele Sefuses annehmen, es wäre das Hauptmerkmal unserer Menschlichkeit und der Hauptunterschied, der uns gegen die anderen Erscheinungen der Schöpfung, Pardon: Umwelt abgrenzt.

Wieso fürchtet die Wokrase sich nicht vor dem Sterben? Die Wokrase lebt mit einer Intensität, die die Frage nach dem Sterben zu einer Marginalie macht. In Augenblicken intensivsten Erlebens empfinden wir ein Stillstehen der Zeit, es sind Momente der Unendlichkeit und diese Unendlichkeit hebt den Tod auf, da sie die Zeit oder das, was wir dafür halten aufhebt. Deshalb können Helden, Pardon Wokrases sterben; weil sie ihr Leben mit so großer Intensität leben, dass sie vollkommen vergänglich und ewig zugleich sind. Das Potential für solch ein intensives, die Zeit auslöschendes Leben ist in jedem von uns; deshalb finden wir es spannend, uns mit Figuren zu identifizieren, die nicht von vornherein und unter allen Umständen in diesem gesteigerten Daseinszustand sind sondern mit solchen, die durch widrige, fordernde, schwere Situationen in diese Zustände hineinexaltiert werden. Das hübsche Mädchen mit dem 1,0 Abitur, das im Bruchteil einer Sekunde den Kinderwagen zwischen die Räder eines plötzlich anfahrenden Lastwagens schiebt und damit das ihm anvertraute Baby anstelle seines eigenen Lebens rettet, zieht uns nicht zuletzt deshalb die Schuhe aus, weil diese Handlung aus dem Impuls eines einzigen Augenblicks in dem jungen Mädchen erweckt wurde.

Der Widerspruch zwischen ordnenden und dekonstruierenden Kräften bestimmt unser Leben; wir können mit einigem Recht die ordenden Kräfte dem Leben zuschlagen und die dekonstruierenden Kräfte dem Tod, jedoch ist das Eine ohne das Andere nicht zu denken und würde in dem einen Fall völligen Stillstand bedeuten; in dem anderen aber – nunja vielleicht ‚Lautstand’? Ich stelle mir das Chaos brüllend laut vor und totale Ordnung totenstill.

Wokrases töten nicht, Wokrases sterben.  Und es geht um Lebendigkeit, nicht um Moral, obwohl Moral oft damit in Verbindung steht. Man könnte darüber nachdenken, ob es das ist, was wir so ungenau als ‚Liebe’ bezeichnen, welches Menschen in diese heldischen Zustände hineinkatapultiert. Hass ist es jedenfalls nicht. Ich finde die Todesverachtung von Dietrich Bonhoeffer, von Sophie Scholl, von Nicole Naumburger hat Wokraseische Qualität.

Zeitgenössisches Kinder und Jugendtheater. Helden. Rollen. Vorbilder. Unübersehbares Gebiet. Jungens. Weites Feld. Kumpels, Problemschüler, verkannte Genies, Pinguine durch dickunddünn.. auf der Mädchenseite: Völlig überschaubares Terrain. Hilletje Jans und basta. Auf dem Bücher- und Hörspielmarkt gibt’s noch Bibi Blocksberg, die Kotztüte für Brüder wird in der Jubiläumsausgabe gleich mitgeliefert.

Da sage noch mal einer oder eine, ersiees habe Schwierigkeiten mit märchenhaften Figuren, die es so in der Realtät nicht geben könne; ich frage: Wie bitte wollen wir unsere gesellschaftliche Zustände woanders hinbringen, wenn  wir es uns verbieten, vorbildtaugliche Figuren zu erschaffen, die über den Istzustand hinausgehen? Dann haben wir bis zur Abschaffung des Y-Chromosoms die Hure und die Heilige, die zu nichts weiter da sind als die Ich-Findung des (männlichen) Zentralhelden kontrovers zu befeuern.

Ich schaue auf das heute erfolgreichste Stück bei Spielplangestaltern und erhoffe mir einigen Aufschluss. Erfolg kann aufschlussreich sein.

Für die Inhaltsangabe sorgt ein Gespräch mit meiner Tochter Leontine (8)

Mama:

Um wen geht’s in Tschick?

Leontine:

Da ist so ein Junge, und der verliebt sich in so ein Mädchen in seiner Schule, und seine Eltern sind weg, und dann kommt Tschick und dann hauen die ab und dann hat Tschick so ein Auto geklaut, dann sind die damit immer rumgefahren, und dann war aber der Tank bei ihnen leer und die wollten tanken und dann haben die den ganzen Tag da so gestanden und die haben sich ein Eis geholt, und dann am Abend also, dann wollten die Benzin klauen und dann haben die einen Schlauch gesucht um das Benzin aus dem einen Auto rauszusaugen, und dann, dann suchen die überall, aber finden keinen Schlauch und dann erinnert sich einer von den beiden, das sie eine Müllhalde gesehen haben, dann sind die da eben zurückgelaufen, und dann war es so, dass die haben ganz viel Schrott gefunden, bloß keine Schläuche, sie haben Wachmaschinen ohne Schläuche gefunden und dann war da so ein Mädchen und dann haben die sich gegenseitig beleidigt, Tschick und das Mädchen, und dann hat sie ihm gezeigt wo Schläuche waren, dann haben die geringelte gesehen, lange, kurze, dicke, dünne, und dann haben sie welche mitgenommen und dann ist ihnen das Mädchen hinterhergelaufen und dann haben die versucht das Mädchen loszuwerden, das hat aber nicht funktioniert, und dann haben die Brombeeren gegessen und dann haben die versucht Benzin zu klauen das hat aber nicht funktioniert und dann ist das Mädchen gekommen und hat gesagt schon mal was von Ansaugen gehört weil das nicht funktioniert hat, und dann sagen die: machen wir doch die ganze Zeit, und dann nimmt die eben den Schlauch, steckt ihn sich in den Mund mit einem Finger von ihr und dann saugt sie ein paar Mal; nimmt sie den Schlauch und den Finger aus dem Mund und sagt sie – Finger auf dem Schlauch – und sagt sie: „Wo soll’n das ding rein und dann haben sie ihr den Kanister gegeben und dann mussten die sie mitnehmen und die hat aber gestunken und dann mussten die immer das Fenster aufmachen, und dann kamen sie an einen See und dann haben sie sich gewaschen und haben geschwommen dann hat Tschick Brötchen geholt dann mussten sie aber ans andere Ufer schwimmen, das war aber so kalt dann sind sie über so eine Brücke gefahren die immer so schwankt, also ne alte morsche Holzbrücke, – wieso schreibst du das alles auf? – Und dann war da alles verlassen, dann haben die da einen Schuss gehört und da war so ein alter Mann und der hat die reingebeten und dann hat der ganz stolz eine halbe Flasche Fanta geholt und dann hat er ihnen zum Abschluss ein kleine Flasche gegeben und wo er gesagt hat es wird euch beschützen wenn ihr in großer Not seid und dann hat’s nach verfaulten Eiern gestunken, da haben sie sie aus dem Fenster geworfen, dann sind sie zurückgefahren, wurde ihr Auto n Schrotthaufen und dann kommt ein Flusspferd ausm Gebüsch mit’m Feuerlöscher in der Hand was in Wirklichkeit eine dicke Frau war die schreiend aus dem Gebüsch kam und dann ist Tschick der Feuerlöscher aufn Fuß gefallen dann sind die mit ihr mitgefahren, die hat aber n Riesenumweg gefahren und dann warn die eben im Krankenhaus dann wurde der angemeldet; kam die dicke Frau mit ganz vielen Riegeln und Getränken wieder die Treppe hoch, hm da muss ich jetzt mal überlegen, nein wie gangs noch mal weiter? Dann wars wieder gut und dann ist das Mädchen, also das war weg das war bei ihrer Tante irgendwo und weiter hab ich nicht gehört Mama und die haben noch auf so einem Berg ihre Namen geschrieben, geschnitzt und sie wollten in 50 Jahren wieder hochkommen.

Ein paar Fragen an Leontine

– Wie würdest du das Stück zu Ende schreiben?

– Daß das Mädchen wiederkommt und dieser – nicht Tschick, sondern der andere Junge – vielleicht heiraten die?

– Wen magst du am liebsten in dem Stück?

– Ähm… hab ich keinen.

– Magst du überhaupt wen?

– Äm uh, joa..

– Wen?

– Alle.

– Wie findest du die Eltern?

– Hm… doof.

– Warum?

– Weil die den einfach so alleine lassen..

– Was sollten sie stattdessen tun?

– Auf ihn aufpassen.

– Hat Tschick Eltern?

– Weiss ich nicht.

– Hat das Mädchen Eltern?

– Ich glaub nicht.

– Was ist schlechter?

– Wie was ist schlechter? Was ist schlechter, Mama?

– Keine Eltern zu haben oder blöde Eltern zu haben?

– Hm… weiss ich nicht.

– Danke.

– Und? Ist jetzt dein Dings fertig?

– Nein, das nicht.

– Immer noch nicht mit zweieinviertel Seiten? Ich hab doch einen ellenlangen Text gesagt.

– Welche Figur wärst du?

– Ähm, ich bin ein Mädchen, also.. Ida?

– Hat die es leicht im Leben?

– Nein?

– Die Jungs?

– Auch nicht.

– Wer hats schwerer?

– Von wen?

– Die Jungs oder die Mädchen.

– Hm.. Die Jungs?

– Inwiefern?

– Hm.. weil sie immer von Polizisten verfolgt werden?

– Was ist mit Tatjana?

– Wer ist Tatjana?

– Das Mädchen, in das der Maik verliebt ist.

– Wer ist Maik?

– Der Held der Geschichte. Die Hauptfigur, der Erzähler.

– Und was war jetzt de Frage von dahinten?

– Ob Tatjana es leicht hat.

– Hm.

– Ja?

– Weiß man nicht so richtig.

– Ja, weiß man nicht so richtig.

– Wie findstn die Tatjana.

– Doof.

– Wieso ?

– Weiß ich nicht.

– Was macht die denn?

– Die hockt in der Schule und macht irgendwas, damit sich alle Jungs in sie verlieben?

– Muss man dafür denn was machen?

– Äm. Nö.

– Kann sie was dafür?

– Äm. Nö.

– Trotzdem ist sie doof?

– Ja.

– Die hat den Helden nicht eingeladen.

– Nee.

– Findest du Isa cool?

– Geht so.

– Welche Figur wärst du gern?

– Isa.

– Wieso?

– Pwt. Weiß ich nicht.

– Wenn Maik ein Mädchen wäre, wärst du dann gern wie Maik?

– Nö.

– Wie Tschick?

– Nö.

– Wie Tatjana?

– Nö.

– Wieso nicht?

– Weiss ich nicht.

– Angenommen, die vier machen eine Firma. Wer soll Chef werden?

– Tschick.

– Wieso?

– Weiss ich nicht?

– Glaubst du, er könnte es am besten?

– Ähm Jao?

– Was kann der was die andern nicht können?

– Richtig gemein sein?

– Noch was anderes?

– Die besten Beleidigungen?

– Braucht man das als Chef?

– Nö?

– Was braucht man als Chef?

– Vielleicht Mut?

– Muss überhaupt einer Chef sein?

– Nein?

– Wie könnte es sonst gehen?

– Dass alle bestimmen?

– Hast du ein Vorbild? Wie wer wärst du gern?

– Pippi Langstrumpf.

– Was findest du an ihr am tollsten?

– Sie ist lustig. Sie ist nett.

– Was meinst du mit lustig.

– Sie macht immer verrückte Sachen wie zum Beispiel Pfefferkuchen auf dem Fußboden backen. Oder in der Schule die Füße auf den Tisch machen oder sich auf den Tisch legen und das Essen auf den Stuhl stellen.

– Das sie so stark ist, ist das wichtig?

– Nö.

– Dass sie so reich ist, ist das wichtig?

– Nö.

– Braucht sie jemanden?

– Nein.

– Auch Tommy und Annika nicht?

– Doch.

– Wozu braucht sie die?

– Zum Spielen.

– Ist sie glücklicher allein oder mit Tommi und Annika;

– Mit Tommy und Annika.

– Obwohl die nicht so sind wie sie?

– Ja.

– Angenommen, es gäbe noch jemanden wie Pippi;

– Was wäre dann?

– Würde Pippi dann mit der anderen Pippi spielen oder mit Tommy und Annika?

– Mit Tommy und Annika und mit der anderen Pippi, vielleicht.

Lernen wir die Welt sehen durch die Kunst? Ich meine ja. Ehe ich Berge sah, sah ich Berge auf Gemälden von Caspar David Friedrich. Ich liebe Berge. Als ich die Gemälde von CDF zum zweiten Mal in einer Retrospektive sah, 30 Jahre nachdem ich sie zum ersten Mal gesehen hatte, erkannte ich, dass der erste Funken für meine Liebe zu den wirklichen Bergen durch das Anschauen dieser Gemälde geschlagen worden war.

Tschick ist in meinen Augen ein Stück romantischer Impressionismus, ist ein sehnsuchtsvolles Gespräch des Autors mit sich selbst. Erlebnisse haben Vorrang vor Entwicklungen, die Phänomene der Umgebung stellen sich dar als Spiegelungen von Stimmungen, als mahnende Zeigefinger; alles Erlebte fungiert als Stimulus sowie als Sinnbild für die Befindlichkeiten des Protagonisten. In diesem Sinne ist ‚Tschick’ eine Art sommerlicher ‚Winterreise’; der Zuschauer blickt einem Wanderer über die Schulter, der wehmütig in das Tal seiner nebligen Innenwelten hinabschaut. Dort finden sich an:

Maiks Gefährte. Maiks Fatamorgana. Maiks Armida. Verschiedene flüchtige Gastgeber.

Wie kommt es zu der Reise in die unbekannte Ostpampa?

Die Zerrüttung der elterlichen Ehe bildet den Rahmen, in welchem die innere Einsamkeit des Erzählers auch zu einer äußeren wird: die Mutter geht – zum wiederholten Mal – in eine Entziehungskur, der Vater nutzt die Gelegenheit zu einer Vergnügungsreise mit seiner Geliebten, seinen Sohn sich selbst überlassend. Maik hat ein Routinevakuum, genannt Sommerferien, das mit frustriertem, weil unerwidertem Verlangen nach der Klassenschönsten angefüllt ist. Tschick, der Klassenexot, verführt Maik zu einer Reise in einem geklauten Auto.

Beziehen sich die nicht sehr ausführlich geschilderte Welt der Eltern und die des Protagonisten überhaupt aufeinander? Allerdings. Die Wechselwirkung zwischen diesen beiden Sphären, die eigentlich als von einander abgetrennt erscheinen, ist tatsächlich die einzige, die direkte Folgen im Handeln der Figuren zeitigt, also im strukturellen Sinne dramatisch ist.

Vor der Reise des Protagonisten erfahren wir, dass die Eltern eine unglückliche Ehe führen, dass die Mutter Alkoholikerin ist, gut aussieht und über einen verschütteten Esprit verfügt; wir erfahren, dass der Vater es sich gern leicht macht, dass es ihm finanziell schon mal besser ging und dass er eine Geliebte hat.

Der Vater wird in seiner Gleichgültigkeit gezeigt und die Mutter in ihrer verzweifelten Sucht.

 

Nach der Reise wird der Vater von Maik in seiner Brutalität gezeigt und die Mutter in ihrer (vor keiner Peinlichkeit zurückschreckenden) Zärtlichkeit. ‚Gewalttätig und aus Prinzip auf den eigenen Vorteil bedacht’ versus ‚schön+unkonventionell+zerbrechlich’. Verantwortlich handeln beide Eltern nicht.

 

Die Mutter zerstört am Schluss häusliche Besitztümer und fordert von ihrem Sohn er solle sich von seinem Herzen leiten lassen. Etwas, das sie offenbar nicht getan und wofür sie mit einer gescheiterten Ehe und ihrer Alkoholsucht bezahlt hat….

Aber welche weiblichen Rollen und Vorbilder hat die Welt von ‚Tschick’ dem Protagonisten zu bieten? Gibt es da aus männlicher Sicht ein Konzept ‚Frau’, mit dem sich eine bessere Beziehung bauen ließe als die, an der die Mutter zur Säuferin wurde, nach dem Modell ‚ehrbare Prostitution an den meistbietenden Bewerber’? In der Liga der Gleichaltrigen finden wir das ewige Doppelgespann Hure/Heilige in Gestalt von Tatjana und Isa: Tatjana Cosiç die Heilige, die ferne Geliebte, die taube Nuss, die Projektionsfläche und in Gestalt von Isa die Hure; die Dreckige, die kundige Kundry, die ewige Zauberin. Die Heilige stimuliert den Helden zu Großtaten wie der Zeichnung von Beyonce und sowieso der ganzen Reise. Die andere stinkt, erschreckt den Helden, indem sie Geschlechtverkehr anbietet, stellt ihre weltliche Gewieftheit in den Dienst der männlichen Protagonisten (Schläuche, Benzintank), bessert sich durch deren Einfluss (sie schmeißen sie in einen kalten See und zwingen sie zur Reinlichkeit) sie borgt dreißig Euro und geht von Bord, sie zeigt später überraschende Anhänglichkeit an den Protagonisten. Isa ist trotz ihrer unkonventionellen und kraftvollen Aspekte leider keine unabhängige Figur; sie ist ganz traditionell über ihre Anhänglichkeit an den Helden definiert, dies umso stärker, als wir nicht das Geringste über sie erfahren; eine promiskuitive Mignon zwodreizehn mit leicht besseren Überlebenschancen. Isa existiert ausschließlich in der Begegnung mit dem ‚Helden’. Wie die beiden anderen gleichaltrigen Hauptfiguren dient sie als Korrektiv des niedrigen Selbstgefühls, das den Helden an seiner freien Entfaltung und seinem Erfolg hindert.

Maik könnte Wilhelm Meister heissen, könnte Rinaldo heissen könnte Parzival oder Tannhäuser heissen.

 

Dann gibt es eine Anzahl toller Muttergestalten:

Die Mutter vieler Kinder, die großartig kochen und erziehen und schlaue Quizfragen zu Harry Potter stellen kann, die Kommunistin, die im KZ umkam, das stimmtherapeutische Nilpferd, die Stimme am Telefon, die Mutter, mit der sich Maik am Ende vereinigt sowieso. Maik umarmt die Weiblichkeit. Hat die Homosexualität von Tschick einen Einfluss auf diese ‚Entwicklung’?

 

Eins jedenfalls scheint das gemeinsame Geheimnis dieser Frauen zu sein: Scheiß auf das was die andern sagen. Maik umarmt seine gescheiterte Mutter; aber wird er es besser machen als sein Vater? Werden die Mädchen es besser machen als seine Mutter?

 

 

Maiks Mutter hat sich nicht von ihrer Verliebtheit leiten lassen bei der Partnerwahl und ihr Leben ruiniert.

Sie gibt Maik als Fazit mit auf den Weg, dass die Verliebtheit das Einzige ist was zählt; Bilanz: Eltern die einander nicht lieben bilden ein schlechtes Elternhaus, bieten keinen Halt und Frauen, die sich mit ihren Kindern absetzen haben materiell die viel schlechteren Karten im Wettkampf um die Futtertröge der Zukunft.

Die Reise der Jugendlichen demaskiert die emotionalen Verhältnisse, in denen die Eltern sich befinden. Das Verhalten der Kinder hat einen Impact auf das Leben der Eltern und die Lebensbilanz der Erwachsenen. Sie treibt die Eltern endgültig auseinander.

 

Zitat: „Bist du glücklich damit? Das. Und nur das. Bist du eigentlich verliebt?

Also ja. Vergiss den anderen Scheiß.

Dann umarmte sie mich. Sie riss die Kabel vom DVD-Spieler raus und schleuderte ihn ins Wasser. Es folgten die Fernbedienung und der große Kübel mit der Fuchsie. Eine riesige Fontäne spritzte über dem Kübel hoch, dunkle Sandwolken stiegen an der Einschlagsstelle auf, und rote Blütenblätter schwammen auf den Wellen.“

Nach welchen Kriterien suchen wir uns unsere Vorbilder aus?

Leontine trifft nach eigenem Bekunden ihre Wahl geschlechtsgebunden.

Kennt einer von uns eine reale Person, die für die Figur Pippi Langstrumpf als Vorbild gedient haben könnte?

Wie sollen wir die gesellschaftliche Realität ändern, wenn wir uns nicht getrauen, Figuren zu zeigen, die über unsere Realität hinausweisen und wir uns darüber hinaus an das ungeschriebene Gesetz halten, das es uns gebietet, Kindern und Jugendlichen optimistische Stückausgänge zu liefern?

Fakt ist doch, dass es nach wie vor keine berufliche Chancengleichheit gibt, dass Mütter und insbesondere alleinerziehende Mütter materiell gesprochen die Arschkarte der Nation ziehen; nach meiner ganz persönlichen Meinung würde diese ganze Hanglage überhaupt erst ausgehebelt werden können, wenn die gesamte Gesellschaft die Lasten, die mit der Sorge um die nachkommen Generationen verbunden sind, gemeinschaftlich über eine Solidarkasse schultern würde oder wenn es ein bedingungsloses Pro-Kopf Grundeinkommen gäbtgibtgebenwird – aber schweife ich ab? Shortcut zurück zu den Theaterwokrases. Behauptung:

Will ich eine starke, freie eigenständige und erfolgreiche weibliche Figur im Zentrum eines Stückes, das auch noch gut ausgeht, dann darf das Märchen keine Schrecken für mich haben.

Ich meine damit tatsächlich insbesondere weibliche Wokrases. Wir brauchen unbedingt weibliche Wokrases, Kinder identifizieren sich offenbar durchaus geschlechtsgebunden. Es ist sicher nicht so, dass sie keine Empfindungen oder Wiedererkennungen mit den männlichen Figuren haben; jedoch identifizieren sie sich nur auf Widerruf. Ein Mädchen bleibt ein Mädchen bleibt kein Mädchen und bildet im Ernstfall, sprich, spätestens wenn die Realität aus Kindern Frauen macht, sein Selbstbild nach den weiblichen Vorbildern die ihm einst angeboten wurden.

Bei meinen Recherchen bin ich auf ein bemerkenswertes und wie ich finde tolles Stück gestoßen; das ist Ad de Bonts ‚Hilletje Jahns’.

Die Erzählerfiguren benennen im Anfang die Grundvoraussetzungen für die Geschehnisse: „Krieg Krieg Krieg und nur die Frauen bleiben über“.

Wenn die Männer tot sind entfaltet sich eine Trümmerfrauentapferkeit, die allerdings als sehr skrupellos dargestellt wird und die das Kind Hilletje fast zerstört. H wird Waisenkind, wird hin und hergeschickt, Tante und Cousine  hängen Hilletje einen Mord an, sie bringt sieben Fahre im Gefängnis zu. 

Die Frauen werden in ihrem Liebesverlangen und ihrem Bezogensein auf Männer als bis zur Unmenschlichkeit unsolidarisch mit den eigenen Geschlechtsgenossinnen gezeigt.

Nach dem Gefängnis geht es mit den Verstoßungen und Demütigungen weiter. Doch Hilletje lässt sich nicht unterkriegen.

Sie wird tatsächlich Chefin, leitet ein Schiff, allerdings unter Aufopferung ihrer Weiblichkeit. Sie verkleidet sich als Mann und reüssiert unter Männern, nachdem sie durch Frauen nur Leid erfahren hat und heiratet sogar eine Frau – ein rätselhaftes Moment, da wir Hilletjes Gründe nicht wirklich erfahren. Hier wird sie erneut durch eine Frau an den Rand des Verderbens gebracht aus dem Sie wiederum nur durch einen Mann errettet wird.

Man könnte sagen, Ad de Bonts Moral von der Geschicht: Frauen können erfolgreich und autonom werden, wenn sie sich selbst zu Männern und das männliche Regelwerk sich zu eigen machen. Frauen, die dies nicht tun sind dazu verdammt Huren oder Opfer zu bleiben. Ein anderes Profil gibt es in dem Stück nicht.

Eine Fortsetzung dieser Überlegungen in möglichst vielen Köpfen ist ausdrücklich erwünscht.